Hydrologie, Hydrogeographie

   
 

 Glazialhydrologie

 
   

1.

Hydrologische Bilanz
 

 

Die hydrologische Bilanz eines vergletscherten Einzugsgebiets errechnet sich nach der Wasserhaushaltsgleichung
 
Q = P - E - B
mit
Q = Abflussspende
P = Gebietsniederschlag
E = Verdunstung
B = Massenänderung des Gletschers

Innerhalb dieser Gleichung errechnet sich die Massenänderung des Gletschers B aus der Akkumulationsrate bc und der Ablationsrate ba. Die Abflussspende ist damit direkt an den Gletscherhaushalt gekoppelt, dessen Verluste als Gletscherspende in den Abfluss eingehen. Die Massenbilanz wird über den Gebietsniederschlag und insbesondere seine jahreszeitliche Verteilung bestimmt. Eine weitere Einflussgröße in dieser Bilanz ist die Lufttemperatur, die einerseits die Phase des Niederschlags, andererseits die sommerliche Ablationsrate und damit wiederum den Schmelzwassereintrag steuert. Darüber hinaus ist auch die Verdunstung des Schmelz- Niederschlags- und Bodenwassers an die Temperatur gekoppelt.

 

2.

Abflussgenese
 

 

Generell besteht in einem vergletscherten Ezwasser in der Regel in ein intra- und subglaziales Entwässerungssystem.
 

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Im Ablationsgebiet fließt das Schmelzwasser zunächst supraglazial auf der Gletscheroberfläche ab, wobei es ein verzweigtes System von größer werdenden Gerinnen erzeugt, die schließlich in Gletscherspalten oder Moulins (Gletschermühlen) enden. Die primäre Permeabilität eines intakten Eiskörpers ist niedrig, da aufgrund der Verdichtung des Mediums nurmehr voneinander mehr oder weniger isolierte Luftblasen auftreten · Nahe dem Druckschmelzpunkt kann Wasser das Eis allerdings in einem System von miteinander verbundenen Linsen und Wasseradern durchdringen
Der Hauptteil des Abflusses innerhalb des Gletschers ist daher an die sekundäre Permeabilität des Eises gebunden, welche abhängig ist von der Größe und Verteilung der englazialen Spalten und Röhren (NYE 1976). In diesem Sinne kann die Schmelzwasserdrainage des Gletschers mit dem Abfluss in einem Karstaquifer verglichen werden
Das intraglaziale Kanalsystem entwickelt sich im Laufe der Ablationsperiode zu einem dreidimensionalen Netzwerk, welches einem dendritischen Flusssystem ähnelt. Dabei erweitert das Schmelzwasser beim Durchfließen die Kanäle durch thermale Erosion, insbesondere Dissipation der fühlbaren Wärme vom Schmelzwasser in das umgebende Eis, mechanische Bearbeitung und Reibungswärme.
Hierbei vergrößern sich größere Kanäle auf Kosten von kleineren, da in ihnen eine höhere Wassermenge transportiert wird und damit im Vergleich zur Fläche der umgebenden Kanalwände mehr Dissipationswärme zur Verfügung steht. Darüber hinaus nimmt in Eisröhren der Druck mit steigender Durchflussrate ab, was zur Folge hat, dass sich in einem intraglazialen Abflusssystem das Wasser in den Hauptadern sammelt.
Der Druck, unter dem das Wasser in den intraglazialen Kanälen steht, wirkt gegen den Auflastdruck des überlagernden Eises und verhindert dadurch ein Schließen der Schmelzwasserkanäle. Bei abnehmendem Wasserdruck (i.d.R. erzeugt durch verringerten Nachschub an Oberflächenwasser) gewinnt der Eisdruck an Bedeutung und bewirkt eine Verengung der Kanäle.
Diese Prozesse ermöglichen eine Anpassung der Kanäle an die Schmelzwassermenge in Zeitskalen von Wochen oder Monaten. Nach Durchfließen des intra- und subglazialen Drainagesystems tritt das Schmelzwasser am Gletschertor aus dem Gletscher aus.

 
 

 

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Neben den Ablationsprozesse an der Gletscheroberfläche können gletscherdynamische Prozesse, wie basales Gleiten, interne Deformation und Druckschmelzen vor Hindernissen sowie geothermische Energieeinträge, en- und subglaziale Schmelzwässer generieren. Aufgrund ihrer im Vergleich zur Gletscheroberfläche geringen Wasserproduktion und der konstanten Schmelzrate, haben diese Prozesse allerdings relativ geringen Einfluss auf Variationen des Abflusses.
 

2.1
Täglicher Abflussgang

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Der Einfluss kurzfristiger Wettereinflüsse auf das Abflussverhalten in einem vergletscherten Einzugsgebiet zeigt sich vor allem in den täglichen Schwankungen der Abflussganglinie: Neben Niederschlagsereignissen, die in Abhängigkeit von ihrer Phase (flüssig oder fest) die Abflussspende erhöhen oder erniedrigen, wird während der Ablationsperiode die Zufuhr in das glaziale Drainagesystem im Wesentlichen durch Schmelzwasserbildung erzeugt. Die Schwankungen vor allem in der Einstrahlung erzeugen in der täglichen Abflussganglinie ein typisches Muster:

 

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Aufgesetzt auf einen "base flow" (PATERSON 1981) wird während der Ablationsperiode die Abflussspitze einige Stunden nach dem Zeitpunkt der maximale Schmelze auf dem Gletscher erreicht.
Mit fortschreitender Dauer der Ablationsperiode verringert sich diese Verzögerung aufgrund der Anpassung der intraglazialen Röhren an die Schmelzwassermengen

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In der gemittelten tägliche Variation des Abflusses ist dieses Phänomen deutlich ersichtlich. Neben der steigenden Durchflussmenge erhöht sich von Mai bis August auch die Amplitude der diurnen Schwankung zwischen Minimal- und Maximalabfluss. Die Abbildung zeigt weiterhin eine zeitliche Verschiebung des Spitzenabflusses von ca. 18:00 Uhr im Juni nach ca. 15:00 im August

 


 

2.2
Jahresgang des Abflusses

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Der über 20 Jahre gemittelte Jahresgang des Abflusses (Beispiel: Pegelstation Vernagtbach) zeigt mit einem deutlichen Sommermaximum des Abflusses (maximale Abflüsse im Juli oder August durch Gletscherschmelze), minimalen Abflüssen im Winter (Februar oder März) und einem Abflusskoeffizienten über 4 nach PARDÉ (1960) ein typisches glaziales Abflussregime in nahezu idealer Form.
 

 


 
 

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Im Winter, wenn die Niederschläge im Einzugsgebiet in fester Form niedergehen und daher im saisonalen Speicher der Schneedecke zurückgehalten werden, unterliegt der Abfluss nach PATERSON (1981) keinen messbaren intra- und interdiurnen Schwankungen, vielmehr kann der "base flow" mit dem durch Geothermie, Druck- und Reibungswärme erzeugten Schmelzwasser gleichgesetzt werden.
Im Frühjahr erfolgt durch die mit den ansteigenden Temperaturen einsetzende Schneeschmelze ein zunächst langsame Zunahme der Abflussspende, wobei Anteile des Schmelzwassers innerhalb des Gletscherkörpers gespeichert werden können
Im Juli und August, also in den Monaten der durchschnittlich stärksten Ablation, erreicht die Abflussspende ihre Spitzenwerte
Die bereits für die täglichen Schwankungen wichtige Größe des Firn- und Altschneeanteils auf der Gletscheroberfläche ist für den Abflussjahresgang ebenfalls von großer Bedeutung:

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Vom Termin der maximalen Ausaperung des Gletschers hängt ab, zu welchem Zeitpunkt innerhalb des Jahres bei maximaler Eisablation und minimaler Schmelzwasserspeicherung die höchsten Abflusswerte zu erwarten sind.
Wird die Schnee- und Eisschmelze durch sommerliche Schneefälle unterbrochen, so geht die Abflussspende rapide zurück. Ebenso verringern sich der "base flow" und die o.g. täglichen Schwankungen zwischen Minimal- und Maximalabfluss (PATERSON 1981). Nach erneut einsetzender Ablation dauert es einige Tage, bis das vorherige Niveau von Abflussmenge und -schwankungsbreite erreicht werden.

 

 
 
 

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In dieser exemplarischen Abflussganglinie ist zum einen deutlich der nahezu konstante Verlauf im Winter, der zunächst langsame Anstieg im Frühjahr und die Spitzenwerte im (Hoch-) Sommer sowie das rasche Abfallen gegen Ende der Ablationsperiode (September-Oktober) zu erkennen.
Zum anderen spiegelt sich im unregelmäßigen Verlauf der Abflusskurve der Einfluss der täglichen Witterung. Besonders augenfällig ist dabei der deutliche Einbruch in der Wasserspende zwischen Anfang und Mitte August, we lcher auf eine Schlechtwetterphase mit Kaltlufteinbrüchen zurückzuführen ist.
Ein Hinweis auf Schneefall ist ein fehlender Anstieg der Abflusskurve trotz der Niederschlagsereignisse in diesem Zeitraum. Die Schneedecke vermindert aufgrund ihrer hohen Albedo die Schmelzprozesse und muss erst wieder abgebaut werden, so dass die Wasserspende erst zeitversetzt zur Erwärmung wieder anschwillt.
Obgleich die Ablation die jahreszeitliche Verteilung von Niederschlag und Verdunstung in ihrer Bedeutung für den Abflussgang übertrifft, sorgen insbesondere in den Sommermonaten meist konvektive Starkniederschläge, die in weiten Teilen des Einzugsgebietes als Regen fallen, für Abflussspenden, welche die Schmelzraten bei weitem übertreffen
Dabei spielt die Größe aperen Eisfläche eine wichtige Rolle. Aus diesem Bereich, der im Vergleich zu den Firn- und Altschneegebieten eine relativ geringe Speicherkapazität besitzt, können flüssiger Niederschlag und Schmelzwasser vergleichsweise schnell abfließen und somit innerhalb kurzer Zeit zum Abfluss beitragen. Darüber hinaus ist für diese witterungsabhängige Hochwasservariante ein gut entwickeltes glaziales Drainagesystem Vorraussetzung, welches in der Regel in der Hauptablationsperiode (Juli/August) vorhanden ist. Aber auch Niederschlagsereignisse bei gleichzeitig bereits gesättigten Firn- und Schneespeichern können Hochwässer zu Folge haben.
 

2.3
Abflussgang auf mehrjähriger Skala

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Der Anteil einer vergletscherten Fläche am Gesamteinzugsgebiet steuert die jährliche Variabilität des Abflusses. Dabei ist die Schwankungsbreite bei hoher oder geringer Gletscherbedeckung am höchsten, während sie bei einem mittleren Vergletscherungsgrad die niedrigsten Werte erreicht. In den Alpen liegt dieses Minimum bei einem Gletscheranteil von ca. 40%
Langfristige Abflussschwankungen in Skalen von Jahren bis Jahrzehnten resultieren nicht monokausal aus der Änderung von Klimaparametern wie Temperatur (also veränderter Abschmelzrate) oder Niederschlag. Vielmehr sind sie das Ergebnis der Einwirkung klimatischer Einflüsse auf Veränderungen im hydrologischen und physiographischen Erscheinungsbild des vergletscherten Einzugsgebiets

 

 

Literatur (Auswahl):
 

 

BENN, D.I & D. EVANS (1998): Glaciers and Glaciation, London
 
PATERSON, W.S.B (1994): The Physics of Glaciers, Oxford
 

 

 

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